Tantra in Österreich
Tantra in Österreich kann nicht ansatzweise die Vielfalt des Tantrismus und seiner Strömungen wiederspiegeln, die sich durch ihre unterschiedlichen Traditionen beträchtlich voneinander abheben.
Trotzdem ist das Angebot an Tantraseminaren in Österreich mit rein geistigen Mediationstechniken auf der einen Seite und mit körperlich-erotischen Praktiken auf der anderen groß genug, dass sich die Frage nach der Orientierung stellt:
Welche dieser Ausrichtungen zieht mich an?
Um sich im Angebot von Tantra in Österreich zurechtzufinden, ist zunächst ein kurzer Exkurs über die Entstehung der jeweiligen Tantra-Traditionen hilfreich.
Die ursprüngliche Praxis des Tantrismus hat sich der Überlieferung nach vom Tal des Indus, dem nördlichen Pakistan und von Kaschmir ausgehend vor vielen tausend Jahren sternförmig in alle Himmelsrichtungen ausgebreitet.
Obwohl die tantrische Praxis ihrem Wesen nach immer eine Gegenströmung zu den sich entwickelnden Religionen bildete, versuchten diese, sie mit ihren Konzepten zu durchdringen.
Zuerst geschah dies im Süden mit dem Hinduismus, sodass ein "hinduistisches Tantra" entstand, welches am indischen Subkontinent eine große Zahl tantrischer Sekten hervorbrachte. Einerseits durch eine dämonologische Tradition, andererseits durch den Einfluß der Veden geprägt, spielten hier die Ideen der rituellen Transformation "niedriger" in "höhere" Energie eine wichtige Rolle.
Die im Tantrismus gleichberechtigte Rolle der Frau und die Ablehnung des Kastensystems ließen sich jedoch nicht so leicht in den Hinduismus integrieren. Im "linkshändigen" Tantra, dem Vamacara, wurden die fünf vedischen Reinigungsgebote sogar bewusst umgekehrt, in der Verehrung der fünf "M":
1. Madya (Rauschtrank - zur damaligen Zeit: Palmwein oder Kokosnussliquör)
2. Māmsa (Fleisch - in der hinduistischen Gesellschaft verpöntes Rindfleisch)
3. Matsya [oder Mīna] (Fisch)
4. Mudrā (Geröstetes Getreide – fakultativ mit Aphrodisiakum versetzt)
5. Maithuna (ritualisierter Geschlechtsakt - gegen den Brahmanenkult: mit einer Frau aus einer niedrigeren Kaste)
Insbesondere wegen des Maithuna ist Tantra in Verruf geraten. Obwohl diese Praktiken nur von bestimmten tantrischen Schulen in einem festgelegten rituellen Zusammenhang ausgeübt werden und einen besonderen Grad spritueller Verwirklichung der praktizierenden Yogis und Yoginis voraussetzen, wird Tantra bei uns fast ausschließlich mit Sexualpraktiken identifiziert.
Für diesen Ruf sorgten bereits die englischen Kolonialherren in Indien, die erstmals die Kunde von "dunklen, sexuellen Praktiken" nach Europa brachten, wo Abscheu und Faszination sich die Waage hielten. Maithuna erregt noch immer die sexuellen Fantasien, wovon auch Tantra in Österreich nicht unbeeinflusst bleibt. "Besserer Sex durch Maithuna" lautet ein Werbeslogan.
Der Tantrismus, der lange Zeit in ländlichen Gebieten von Indien und in Indonesien anzutreffen war, ähnelte stark schamanistischen Religionen, sodass magische Rituale, Zauberei und der Kampf gegen Dämonen grosse Bedeutung hatten. Diese Tradition hat gegenwärtig für die Angebote von Tantra in Österreich den geringsten Niederschlag gefunden.
Im damals regen Austausch mit den MeisterInnen in Assam breitete sich im 5. Jht. die tantrische Praxis noch weiter in den Osten aus und beeinflusste den Chan-Buddhismus in China, welcher ebenfalls eine nonduale Meditationspraxis pflegt.
Auch heute gibt es einen Chan-Meister einer traditionellen chinesischen Übertragungslinie, der gleichzeitig auch ein Tantra-Meister ist: Daniel Odier hält auch im deutschsprachigen Raum Retreats ab und hat Tantra in Österreich maßgeblich beeinflusst.
Im 8. Jht. kam die tantrische Praxis in den Norden und nach Tibet, wo sich der "tantrische Buddhismus" entwickelte. Obwohl er sich mit der hier vorherrschenden schamanistischen Tradition und ihren magischen Praktiken verband, erhielt sich die nonduale tantrische Praxis als eigenständiges Lehrsystem vor allem in der Übertragungslinie des Dzogchen. Diese buddhistische Meditationspraxis richtet sich ebenfalls auf die unmittelbare Erkenntnis der Wirklichkeit. Ein großer Lehrer des Dzogchen in der Gegenwart ist beispielsweise James Low, der bis vor kurzem auch in Österreich Retreats abgehalten hat, zurzeit aber immer noch online Veranstaltungen anbietet.
Der kaschmirische Tantrismus, der sich hier direkt an der Quelle des Tantrismus - zumindest bis zum Regime der Taliban - erhalten hat, scheint die ursprünglichste Tradition zu bewahren. Zwar nutzt er auch Begriffe der hinduistischen Mythologie wie z.B. Shiva und Shakti, um das Sein in einer polaren Welt darstellbar zu machen, betont jedoch immer die grundsätzliche Einheit der beiden; er ist auch als Kaschmir-Shivaismus bekannt.
Auf ihn geht eines der ältesten Bücher der Menschheitsgeschichte zurück: das Vijñana Bhairava Tantra, das ein Grundlagentext für die uralten Meditationen der tantrischen Praxis darstellt.
Die drei bekanntesten Tantra-Meisterinnen, die im Westen wirken, sind: Éric Baret, der fast nur in Frankreich lehrt, Daniel Odier und Nathalie Delay, die auch in Österreich Tantra-Yoga anbieten. Da wir sie beide immer wieder treffen, und seit 1999 hier in Österreich organisiert haben, ist ihr Einfluß auf unsere eigene tantrische Praxis am größten.
Alle bisher beschriebenen Wege sind traditionelle Formen des Tantra, die sich zumeist in einer direkten Übertragungslinie auf die alten tantrischen Meisterinnen zurückführen lassen. Sie verlangen ein committment für die regelmäßige Praxis und Meditation.
Was heute Tantra in Österreich wesemtlich beeinflusst, ist eine Richtung, welche die modernen Konzepte der körperintegrativen Psychologie, der Sexualtherapie und der neuen Bioenergetik mit Elementen der alten tantrischen Praxis verbindet. Durch zeitgemäße Methoden der Selbsterfahrung und Therapie wird eine dem westlichen Menschen angepasste Annäherung an die tantrische Tradition angestrebt. Rund um diese neuen Tantraschulen gibt es seit den 1990-er Jahren eine Reihe von Anbietern, die eine Vielzahl unterschiedlicher Workshops durchführen.
"Tantra ist Lebensfreude" ist dabei ein Name für Tantra in Österreich, der gewährleistet, dass die Integration der Persönlichkeit, eine differenzierte Körperwahrnehmung und das Wiederentdecken einer usprünglichen Lebendigkeit als Grundlagen dafür betrachtet werden, sich transpersonalen Erfahrungen zu öffnen.
Eine Unterscheidung in "sprituelle" und "nicht-sprituelle Erfahrung" wird in der tantrischen Praxis dieser Ausrichtung freilich nicht getroffen. Damit endet die Suche, die den Suchenden und die Suchende bisher auf Trab gehalten haben: "Der Drang immer etwas zu erreichen, ist geboren aus der Angst unseres Ich, sich dem unendlichen Reichtum zu öffnen, den die Einmaligkeit jedes Augenblicks bereit hält und ist eine psychische Wurzel unseres Leides.
Wenn die tantrische Praxis ans Ziel führen soll, darf sie kein Ziel haben. Die Praxis des Tantra macht unser ganzes Leben - auch den Alltag! - zur Spielwiese für unsere Erfahrung, uns immer wieder dem zu stellen, was wir fühlen und wie wir es fühlen, um es dann in unser Herz zu nehmen."
("Tantra ist Lebensfreude")